Nora - ein gewagtes QUASI SO-Projekt

Westf?lische Nachrichten vom 20. November 1998

Dieter Michel. Ibbenb?ren. 90 Zuschauer fanden sich am Mittwochabend in der Alten Sparkasse zur ausverkauften VHS-Premiere von Henrik Ibsens "Nora oder Ein Puppenheim" aus dem Jahre 1879 ein. Jens Dierkes gab mit neuen und altbew?hrten Amateur-Theaterleuten des ?ber die Stadtgrenzen hinaus bekannten QUASI SO-Theaters sein Regiedeb?t und lieferte ein in vielen Einzelheiten tragf?higes Inszenierungskonzept ab.

Die Eingangshalle vor der Stadtb?cherei bot mit ihrer reizvollen M?blierung in ihrer gekonnten Funktionalit?t und mit ihren aparten Details (Kompliment an J?rn Sch?fer) den stilsicheren voyeuristischen Einblick in die (allerdings lampenlose) Wohnstube der Familie Helmer, wo sich ein - zu Ibsens Zeiten - revolution?rer Emanzipationskampf abspielte. Die Story um das verw?hnte Zwitscherlerchlein, das erst nach acht Jahren und drei Kindern der eitlen Patriachalit?t ihres egoistischen Mannes entsagt, hat augenscheinlich nicht nur f?r das Ensemble nichts von ihrer Problematik eingeb??t.

Und so wartete denn diese Inszenierung mit einer buchstabengetreuen, langen Auff?hrung auf, der man allenthalben das bemerkenswerte Gesp?r des Regisseurs  f?r die vielschichtigen sozialpsychologischen Nuancen dieses Ehedramas anmerkte. Mit seiner imposanten Sensibilit?t f?r szenische Wirkung und f?r die das Milieu dominierenden Spielarten der Selbstsucht kr?nte Dierkes zweifellos sein Erstlingswerk.

Das spiegelte sich zuv?rderst in der Titelfigur, der Henriette Mudrack mit einer h?chst diszipliniert erspielten Ambivalenz von naivem Aufbegehren, umgarnender Raffinesse, m?dchenhafter Launenhaftigkeit sowie verkrampfter Zukunftsgl?ubigkeit eine frappierend einf?hlsame Kontur lieh. Vom Lidaufschlag bis zum flirrenden Trippelschritt bot sie eine imponierend stimmige Nora und hielt diesen auch physischen Kraftakt nerv?ser Flatterhaftigkeit bravour?s bis zum Schlusssatz durch.
Gleicherma?en ?berzeugte Martina Brune als vom Schicksal einer lieblosen Ehe gekennzeichnete Witwe, indem sie etwa zu Beginn ihre "uns?gliche" innere Leere beklemmend sp?rbar werden lie? und sich am Ende in ihrer verzweifelten Sehnsucht nach einem Lebenssinn eine sp?te Ehe ausgerechnet mit Krogstad m?hevoll errang.

Diesen Gesetzesbrecher aus Not spielte Klaus Peter Lefmann in ausgezeichnet pr?gnanter Artikulation und sehr glaubw?rdiger Fahrigkeit, da es ihm bewundernswert gelang, einseitige Schurkenhaftigkeit zu vermeiden  und das zerr?ttete Getriebensein dieses "Schiffbr?chigen" auch in seiner K?rpersprache zu vermitteln. Dem langj?hrigen Hausfreund der Helmers wusste Udo Eickelmann in der Rolle des Dr. Rank glaubw?rdige Z?ge, besonders als Zyniker, zu verleihen, wobei sein durch Syphilis-Erbschaden bedingtes Sterben eher seinen Worten als seinem (vielleicht doch zu gesundem) Auftreten zu entnehmen war.

Die anspruchsvollste, weil f?r ein junges Amateur-Ensemble heikelste Rolle hatte Michael Kneisel als Noras perfid-gesellschaftskonformer Gatte zu f?llen, der sich sein Luxusweibchen als durch Heirat legitimierten Besitz (dumm) zu halten sucht: "Jetzt spricht das Rotkehlchen, als ob es ein Mensch w?re." Diesen bornierten ?bervater von Beginn an v?llig negativ zu ?berzeichnen, das ist sicherlich eine diskutierbare Interpretation. Angesichts vieler guter Akzentuierungen, etwa in den Momenten eitler Selbstgef?lligkeit, mochte das Lampenfieber wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich sein Wechselbad der Gef?hle manchesmal zu sehr lediglich in ?berproportionaler Lautst?rke spiegelte.

Die weiteren Ensemblemitglieder, darunter drei liebliche Kinder, wussten durch ?berzeugende Auftritte zu gefallen. Sehr ansprechend war auch die zeitgen?ssische Kost?mierung (Ute St?ttner, Imke Strothmann) mit stilsicher nuancierten Accessoires. Die Frage, an der sich m?glicherweise bei dieser Auff?hrung die Geister scheiden, resultiert aus dem Faktum, dass 120 Jahre Fortschritt gottlob auch das Bewusstsein des Publikums hinsichtlich bourgeoischer Ehestrukturen ver?ndert haben, so dass dem dramatischen Stoff das zuzeiten Ibsens provozierend Neue heute fehlt. Tr?gt sich dann aber eine blo? historisch verpflichtete Inszenierung ohne eigene entschiedene Akzentuierung (etwa in absurder oder parodistischer Sch?rfung)? Reichen schauspielerische Leistungen, die zu Recht den frenetischen Schlussapplaus des bis zum Schluss gefesselten Premierenpublikums einheimsten?

Gelegenheit, dies f?r sich selbst zu entscheiden, bietet sich noch heute, morgen und ?bermorgen (Alte Sparkasse) sowie vom 27. bis 29. November (Kepler-Gymnasium) jeweils um 20 Uhr.